In die Sonne schauen

written by malu winter

Wie so oft hier auf diesem Blog haben wir es auch dieses Mal wieder mit einem Film zu tun, welcher sich auf einer rein narrativen Ebene gar nicht und wenn dann nur sehr schwer zusammenfassen lässt. Die Ausgangslage, wenn man dem denn so sagen will, lässt sich aber grob umreisen. Der Film spielt während vier unterschiedlichen Zeitepochen, bis auf eine Handvoll Szenen, ausschliesslich auf einem Vierseithof irgendwo in der Altmark (im heutigen Sachsen-Anhalt). Während dieser vier Zeitepochen, die genauen Jahreszahlen enthält der Film uns vor, erhalten wir Einblicke in die Leben vier junger Frauen. Alma (gespielt von Hanna Heckt) lebt während des deutschen Kaiserreichs, kurz bevor der erste Weltkrieg ausbrechen wird, mit ihren Geschwistern und ihrer Gutsbesitzerfamilie auf den genannten Hof. Während des zweiten Weltkriegs, irgendwann in den 1940er Jahre lebt Erika (Lea Drinda) ebenfalls mit ihrer Familie auf ein und demselben Hofsgut. Angelikas (Lena Urzendowsky) Geschichte wiederum spielt während des Kalten Kriegs und somit während dem Bestehen der DDR. In der heutigen Zeit angesiedelt ist die letzte Geschichte, nämlich die der beiden Schwestern Nelly (Zoë Baier) und Lenka (Laeni Geiseler) die mit ihren Eltern vor kurzem aus Berlin hergezogen sind. Und hier endet die klare Faktenlage dann auch bereits und der Film überlässt uns ganz allein und wirft und in seine Geschichte hinein.

Einer der ersten Begrifflichkeiten, die wohl den meisten nach der Sichtung dieses Films in den Kopf schiesst, ist: Transgenerationale Weitergabe. Oder auch intergenerationelles Trauma. Dieser Begriff drängt sich einem aber auch ohne weiteres auf. Sind wir doch während beinahe 3 Stunden Laufzeit dazu verdonnert mitanzusehen, wie sich die immer gleichen sexistischen und patriarchalen Strukturen immer und immer wieder aufs Neue auf die Leben unserer Protagonist*innen auswirken und diese teilweise sogar zu gefährden drohen. Wenn wir nun noch die Verwebung der vier Geschichten mit in unsere Überlegungen einbeziehen, drängt sich eben dieser Terminus uns doch sehr klar auf. Almas älterer Bruder Fritz (Filip Schnack) ist gleichzeitig Erikas «kriegsverzehter» Onkel, für welchen sie eine beinahe schon erotische Faszination zu entwickeln scheint, schleicht sie doch nachts in sein Zimmer, betrachtet fasziniert sein amputiertes Bein, bindet sich das eigene Bein ab und übt sich im Gehen am Stock. Eben diese Erika wiederum ist die Schwester von Angelikas Mutter (XXX XXX) und somit ihre Tante, welche sich am Ende des zweiten Weltkrieges lieber für den selbstbestimmten Tod als die Gräueltaten, welche ihr wie auch den anderen Frauen des Ortes, durch die ankommenden, feindlichen Soldaten bevorstanden. Und zuguterletzt ist Angelika die verstorbene Mutter der neugewonnenen Freundin Kaya (Ninel Geiger) von Lenka im Heute. Es ist daher ersichtlich, warum sich in der Rezension dieses Films so oft darauf berufen wird. Und sicherlich ist es die Absicht von Mascha Schilinski gewesen, die Unfähigkeit darüber, die eigenen Traumata zu durchbrechen und zu überwinden, anstatt diese an die eigenen Kinder weiterzugeben und damit zu reproduzieren, als Thema aufzugreifen aber sich damit zufrieden zu geben, erscheint mir dann doch etwas zu kurz gegriffen.

Handelt es sich bei dem Erlebten doch oftmals um Dinge und/oder Vorfälle, die überhaupt nur auf Basis von, noch heute vorherrschenden, patriarchalen Strukturen und Gesellschaftsformen überhaupt entstehen konnten und sich somit ausserhalb des Einflussbereichs der betroffenen Personen befinden. Dies führt im Umkehrschluss dazu, dass eben diese betroffenen Frauen, trotz des vorhandenen Wissens über das Ausmass der Ungerechtigkeit, dazu verdonnert sind, zuzusehen, wie sich eben diese Vorfälle immer und immer wieder aufs Neue wiederholen und eine neue Generation darunter leiden muss, Gewalt erfährt, dadurch zwangsläufig Traumata erstehen werden, nur damit mit dem Aufkommen einer nächsten Generation der Kreislauf erneut von vorne beginnt. Das Tragische daran ist nun doch die Tatsache, dass diese Frauen genau dadurch doppelt zu Schaden kommen. Nicht nur mussten sie selbst schreckliche Dinge erleben und über sich ergehen lassen, nein, zu allem Überfluss werden sie von der Gesellschaft dazu verdonnert tatenlos zuzusehen, wie eben dies auch ihren Kindern geschieht. Das Gefühl, welches sich einstellen muss, wenn man im Wissen darüber wo das Problem gegraben liegt und möglicherweise sogar mit konkreten Lösungsansätzen im Kopf, mitansehen muss, bin ich nicht in der Lage mir vorzustellen.

Es wird also klar, dass wir es hier mit einem sehr ergiebigen Film zu tun haben. Aber auch in seiner Machart, seinen Bildern und seiner Erzählweise muss sich «In die Sonne schauen» absolut nicht verstecken. Das Schauspiel weiss durch und durch zu brillieren, die Kameraführung ist atemberaubend und die komplette Stimmung, welcher dieser an ein Mosaik erinnernder Film zu erzeugen weiss, hat es vermocht, mich auch bei der zweiten Sichtung vollkommen in seinen Bann zu ziehen. Wichtig zu erwähnen ist hier vielleicht, dass es sich hierbei nicht um eine Anthologie handelt. Will heissen, uns werden nicht vier lose miteinander verbundene aber dennoch in sich geschlossene und abgeschlossene Geschichten präsentiert, sondern es handelt sich trotz der unzähligen Jahre, welche zwischen den jeweiligen Epochen vergangen sind, um eine grosse, um nicht zu sagen allumfassende Geschichte. Wie bereits erwähnt folgt der Film keiner uns gewohnter Erzählstruktur und wechselt immer wieder zwischen den Zeitebenen hin und her, so dass wir uns als Publikum phasenweise gar nicht ganz im Klaren sind in welcher Epoche wir uns denn gerade befinden. So wechseln wir teilweise während respektive durch eine Kamerafahrt von der einen Zeit in die nächste und möglicherweise auch direkt wieder zurück. Beinahe so, als würde die Vergangenheit wie auch die Zukunft immer wieder kurz aufblitzen. Fast so, als würden die Geschichten der anderen Frauen, immer wieder auf unterschiedliche Arten und Weisen Einzug ins eigene Leben und Erleben Einzug finden. Beinahe so, als wären all diese Erzählungen miteinander verbunden. Die Art und Weise wie eben diese Verbundenheit (mit und untereinander) und Vermischung durch filmische Mittel wie Narration und Filmtechnik untergebracht wurden, ist nur einer der unzähligen Aspekte, welche diesen Film so aussergewöhnlich machen.  

Eines der grossen Leitmotive des Films sind offenkundig Blicke und was diese bedeuten und aussagen können. Wir sehen, wie Menschen durch Schlüssellöcher blicken. Wir sehen wie Angelika ihrer Mutter einen Trick vorführt und die Mutter im Zuge dessen, dazu auffordert sich abwechslungsweise zuerst das eine und dann das andere Auge zuzuhalten. Alma schaut zu Beginn des Films einmal direkt in die Kamera und es fühlt sich wahrhaftig so an, als würde sie einem direkt in die Augen schauen. Aber auch für unserere Blicke interessiert sich der Film. Die Kamera ist stellenweise mehr eine Figur im Film als eine blosse Kamera. Durch die verspielten, kreativen Kamerafahrten werden wir als Publikum beinahe selbst Teil des Films. Eben dies ermöglicht es uns direkt ins Geschehen einzutauchen und dieses hautnah miterleben zu können.

Oftmals ist es nun bei Filmen, welche über mehrere miteinander verbundene Zeitepochen erzählt werden, so, dass die Verbindungen, doch sehr offen, für alle zugänglich an der Oberfläche schlummern. Böse Zungen, werden nun sicherlich sagen, dass dieser Film eben dies auch tun würde. Zugegebenermassen sind Gemeinsamkeiten oder auch gewisse Wiederholungen, nicht wahnsinnig subtil und dennoch vermute ich stark, dass sie den meisten Zuschauer*innen, zumindest während der ersten Sichtung nicht auffallen werden. Und wenn sie denn auffallen, frage ich mich, wie viel Gewichtung ihnen zugeschrieben werden würde. Gerne möchte ich an dieser Stelle ein solches Beispiel aufgreifen. Die kleine Alma ist ganz fasziniert von einer von ihr gefundenen Fotografie. Es handelt sich dabei um eine Totenfotografie der kleineren Schwester Almas, die mit sieben Jahren plötzlich verstarb, wie wir gemeinsam mit Alma von deren älteren Schwestern erfahren. Darauf ist die gesamte Familie, dies sich rund um die verstorbene Schwester (die ebenfalls den Namen Alma trug) versammelt hat, zu sehen. Interessant hierbei ist, dass das Gesicht der Mutter auf ganz merkwürdige Art und Weise verschwommen ist. Fast als wäre sie ein Geist, wie auch eine der Schwestern beim Betrachten des Bildes feststellt. Vielleicht aber auch so, als ob der Zwiespalt, den die Mutter in sich trägt, genau im Moment als der Auslöser betätigt wurde, aus ihr herausgebrochen ist. Der Zwiespalt zwischen den Erwartungen der Gesellschaft an sie als Frau und Mutter und dem tiefen Schmerz durch den Verlust ihres Kindes und ihrer eigenen Existenz. Auf dem gemeinsamen Familienfoto ist auch das Gesicht von Angelika auf dieselbe, etwas verstörend anmutende Art und Weise verzehrt. Im Gegensatz zu Almas Mutter erhalten wir aber einen Einblick in Angelikas Leben und Gefühlswelt und müssen nicht wie bei Almas Mutter Mutmassungen über die Entstehung und ihrer Gefühlswelt anstellen. Angelika rennt, just in dem Moment als das Foto gemacht wird, aus dem Bild, kann sie doch, ebenso wie Almas Mutter, die innerliche Dissonanz zwischen Erwartungen und Vorstellungen und der grausamen Realität nicht mehr aushalten. Sie unternimmt also einen Fluchtversuch. Aber in unserer Welt, war es leider noch nie sonderlich aussichtsreich vor Unterdrückungsmechanismen zu fliehen. Das dem so ist, erfahren wir aus dem Mund ihrer Tochter Kaya, als diese Lenka von ihrer verstorbenen Mutter erzählt.

Mehrmals werden wir Zeug*innen davon wie einige unserer Protagonist*innen für denselben, scheinbar einzigen, schrecklichen aber immerhin selbstbestimmten Ausweg aus ihrer Misere entscheiden, nämlich in dem sie sich das Leben nehmen. Durch einen harten Schnitt, erfahren wir jedoch, dass dies in Wahrheit gar nicht wirklich geschehen ist, sondern sich vermutlich bloss als reelle, stets präsente Option im Kopf der jeweiligen Person abgespielt hat. Der Film deutet hier an, dass es sich bei diesem scheinbaren Ausweg am Ende doch auch nur um eine Illusion handelt. Natürlich kann man dadurch als Individuum alle dem ein und für alle Male entfliehen, aber wirklich verändern tut sich dadurch am Grossen Ganzen, der Wurzel allen Übels doch nichts. Möglicherweise wird der Leidensdruck, für alle, die diesen Schritt aus unterschiedlichen Gründen nicht gehen können oder wollen, nur noch grösser. Verlieren sie doch eine Verbündete.

Natürlich, schon allein zeitlich bedingt, gehen die Thematiken, die Art und Weise der Unterdrückung und Diskriminierung, welche die Frauen erleben müssen, teilweise weit auseinander. Während Almas Vater ihre Schwester, im vollen Wissen darüber, dass ihr dort das exakt selbe Schicksal, wie den Mägden auf dem eigenen Hof, inklusive Zwangssterilisierung zur prophylaktischen Vorbeugung eines ungewollten «Bratens in der Röhre» durch einen der Stellknechte bevorsteht, als Hofmagd an einen nahegelegenen Hof verschachert, muss sich Angelika mit dem anzüglichen und teilweise übergriffigen Verhalten ihres Onkels und dem gekonnten Ignorieren ihrer Eltern eben dieser Handlungen herumschlagen. Erika hingegen war während ihrer Lebtage mit ihrem gewalttätigen Bruder und später mit der anstehenden sexualisierten Gewalt der amerikanischen oder russischen Soldaten konfrontiert. Diese drei Geschichten könnten unterschiedlicher nicht sein und weisen dennoch so viele Gemeinsamkeiten auf. Keiner dieser Frauen war ein selbstbestimmtes Leben vergönnt. Und alle drei haben sich, vermutlich aus genau diesem Grund, gegen den Fortbestand eben dieses Leben entschieden. Den Selbstmord ihrer Schwester, wird von Alma im Voice Over dann ganz simpel als Arbeitsunfall abgetan, was der Wahrheit näherkommt als es mir lieb wäre.

Der Film handelt von Schmerzen, die sich in den Körper einbrennen und diesen nie wieder vollständig verlassen werden. Da haben wir beispielsweise Almas Mutter, welche immer wieder, und ohne jegliche Kontrolle darüber haben zu können, Würggeräusche von sich gibt. Oder die Mutter von Angelika, die, so erzählt es uns der Film, ausschliesslich in unpassenden Situationen in der Lage ist zu lachen. Beinahe so, als hätte sich der jahrzehntelange Schmerz in ihrem Körper verinnerlicht. Beinahe so, wie man stets, auch danach noch, einen hellen Fleck vor dem inneren Auge sehen kann, nachdem man zu lange in die Sonne geschaut hat.